Freitag, August 14, 2009

U.S. Gesundheitsreform: Eine Kleinkriegs-Anleitung für Jedermann

Die Schwierigkeiten, die U.S. Präsident Obama mit der von ihm während des Wahlkampfs versprochenen Gesundheitsreform bekommen hat, haben ein Ausmass angenommen, dass sogar diesseits des “Grossen Teichs” davon berichtet wird (z.B. ARD Tagesschau, NZZ, TA). Allerdings sind die Berichte von Ungenauigkeiten durchzogen, die sich mit einer kurzen Recherche leicht vermeiden liessen.

So schreibt Sabine Müller, HR-Hörfunkstudio Washington

Es ist nicht ganz klar, warum diese Proteste so eskalieren. Vielleicht sind die Menschen wirklich verängstigt, was mit ihrer Gesundheitsversorgung passiert. Oder der Grund ist der, dass die republikanische Partei gezielt Mitglieder losschickt, um Bürgerversammlungen aufzumischen und die Demokraten unter Druck zu setzen.

Das ist nicht nur ungenau, sondern falsch. In tendenziell eher liberalen U.S. Nachrichtensendungen, wie der von Rachel Maddow auf MSNBC, wurden die Drahtzieher der “Proteste” mit einer simplen Web-Recherche aufgedeckt: Es handelt sich um Schein-Bürgerbewegungen, gegründet, geführt und finanziert von bekannten Lobbyisten der Pharma-Industrie und der Krankenversicherer. Die Schreier in den Bürgerversammlungen sind entweder bezahlte Hetzer, die mit Bussen herangekarrt werden, oder aber leichtgläubige ältere Personen, die durch Lügen der rechtskonservativen Radio- oder TV-Hosts (vor allem auf Fox News) verunsichert und verängstigt worden sind. Es gibt Webseiten, auf denen Anweisungen gegeben werden, wie die Versammlungen am effektivsten zu stören sind. Das Ziel ist, jegliche Diskussion der Gesundheitsreform zu unterbinden und letzlich, jede Reform an sich zu killen. Einerseits geht es um hunderte von Milliarden Dollars für die Versicherer und die Pharma-Industrie, anderseits aber auch darum, der Obama-Administration eine empfindliche Niederlage einzufahren.

Die Lügenpropaganda der Reformgegner und der Republikanischen Partei als Handlanger der Gesundheits-Industrie verwendet hauptsächlich folgende Schlagworte:

Sozialisierte Medizin

Kein Schlagwort ereifert die konservativen Amerikaner so sehr, wie das der sozialisierten Medizin. Das tönt zu sehr nach Sozialismus, und der ist bekanntlich irgendwo zwischen Kinderschändung und Teufelsanbetung angesiedelt. Diese Debatte um “sozialisierte Medizin” ist grotesk auf so vielen Ebenen, dass es schwierig ist, zu entscheiden, wie man sie erklären soll. Vielleicht Punkt für Punkt:

  • Die bisherigen Reform-Vorschläge beinhalten keine Spur von sozialisierter Medizin. Es gibt wohl Demokraten, die ein sogenanntes single-payer System befürworten, d.h. eines, in welchem eine Instanz – meist der Staat – sämtliche Rechnungen bezahlt. Aber bereits konservative Demokraten (sogenannte Blue Dogs) lehnen das ab. Immerhin ist das Sozialismus.
  • Obamas Vorschlag einer sogenannten Public Option ist lediglich eine staatliche Krankenversicherung als Konkurrenz zu den privaten Versicherern. Zugang zur Public Option ist strikt geregelt und steht im Wesentlichen nur denen zu, die sich keine private Versicherung leisten können, oder die aus der privaten Versicherung “entlassen” werden, wenn etwa eine Versicherung eine teure Behandlung (z.B. gegen Krebs) nicht zahlen will, weil der Versicherte angeblich eine frühere Krankheit (z.B. Akne) nicht deklariert hat.
  • Aeltere und behinderte Amerikaner sind im Medicare Programm versichert. Medicare ist bei den Amerikanern beliebt, und sie sind damit sehr zufrieden. Medicare ist Sozialisierte Medizin. Medicare ist ein staatliches single-payer Gesundheitsprogramm, und dazu arbeitet es effizienter als die privaten Versorger (Medicare hat Verwaltungskosten von c.a. 3%, die privaten Versicherungen bis gegen 30%).
  • Der Kongressabgeordnete Anthony Weiner (D-NY) hat seinen republikanischen Kollegen die Gelegenheit geboten, ein für allemal den Sozialismus aus der Gesundheitsversorgung zu tilgen, und einen Antrag gestellt, Medicare abzuschaffen. Der Antrag wurde mit allen Stimmen der Republikaner (einschliesslich der Wirrköpfe am rechten Rand) abgelehnt.
  • An einer kürzlichen Bürgerversammlung in Simpsonville stand ein Mann auf und sagte dem Abgeordneten Robert Inglis (R-SC): “behalten sie ihre Staats-Finger weg von meinem Medicare!” - “Ich musste ihm freundlich erklären: ‘Um genau zu sein, mein Herr, ihre Gesundheitsversorgung wird vom Staat betrieben’”, erinnerte sich Inglis. “Aber er wollte nichts davon hören”.

Todes-Gremien, Euthanasie

Angeblich soll die Gesundheitsreform dazu führen, dass älteren und behinderten Amerikaner die Pflege verweigert (“rationiert”) wird. Ausserdem sollen vor allem ältere Menschen dazu überzeugt werden, sich umzubringen.

Diese Lüge hat einen wahren Ursprung, nämlich die Tatsache, dass Medicare künftig die Gebühren für sogenannte End-of-Life Beratungen übernehmen soll. Es handelt sich dabei u.a. um die Frage, ob und wie lange das Leben im Ernstfall künstlich verlängert werden soll. Die meisten Menschen haben sehr strenge Ansichten darüber, was mit ihnen in einem solchen Fall geschehen soll, wenn sie diese Entscheidung nicht mehr selber treffen können, und wollen sie daher geregelt wissen. Ironischerweise stammt dieser Antrag urprünglich von einem Republikaner, Charles Grassley, Senator von Iowa, der aber inzwischen natürlich ebenfalls die Lüge der Todes-Gremien verbreitet.

Das Beispiel der U.S.A. ist auch illustrativ dafür, womit wir in der Schweiz allenfalls zu rechnen haben, sollte eine echte Reform im Gesundheitswesen anstehen. Wohl ist die Situation bei uns nicht so extrem, wie in den U.S.A.:

  • die Grundversicherung ist ein non-profit Geschäft, und daher würden die Versicherer kaum mit demselben Geschütz auffahren
  • die Leute sind weniger leichtgläubig und würden solch krasse Lügen wohl durchschauen

Anderseits ist auch bei uns der irrationale Glaube an die göttliche Allmacht und Weitsicht des Freyen Märchts trotz seines Totalversagens in der Finanzkrise immer noch recht stark, die Pharmalobby hat einen guten Teil der Nationalräte (und die ganze FDP) im Sack, und wir haben eine SVP, die den Republikanern in nichts nachsteht, zu Lügen zu greifen um ihre Klientel (die Zahlmeister, nicht das Volk) zu befriedigen.

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